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Freitag, 5. Oktober 2012

Haruki Murakami: Kafka am Strand

Weide und Berge (c) G. Sandhoff


Habe mit Kafka am Strand mein erstes Buch von Haruki Murakami gelesen und war sehr positiv überrascht. Normalerweise lese ich nicht gerne Bücher von Autoren, die in Kritikerkreisen hochgelobt werden (Warum soll man auf Menschen hören, die vermutlich selbst gerne Schriftsteller geworden wären, aber niemals ein einziges Buch zustande gebracht haben?), doch Murakamis Stil hat mir sehr gefallen. Das Buch hat eine seltsame Atmosphäre und ist auf den ersten Blick gefällig zu lesen. 

Zunächst scheint es sich um einen typischen Adoleszens-Roman zu handeln, jedoch mischen sich mit dem Fortschreiten der Handlung immer mehr mystische Elemente in die Erzählung. Anfangs alternieren noch die konventionellen und die mystischen Erzählebenen miteinander. Doch zur Mitte des Buches hin beginnnen sich beide Ebenen zu vermischen, bis schließlich die konventionelle Ebene völlig von der mystischen aufgesogen wird. 

Der Roman selbst hat aber nur bedingt etwas mit Kafka zu tun: Wenn man vom Namen einer der Hauptfiguren absieht, hat die Handlung herzlich wenig Verbindungen zum Schriftsteller aus Prag. Auch vom Stil her erinnert mich Kafka am Strand eher an Romane von Paul Auster (der ja ebenfalls mit Kafka verglichen wurde), insbesondere in den Passagen um "Johnny Walker" und "Colonel Sanders" mit ihren eigentümlichen Dialogen, die an Stadt aus Glas oder die anderen Romane der New York Trilogie erinnern. 

Ich möchte jetzt nicht lange über die Handlung des Romans referieren, sondern direkt zu dem Punkt kommen, der mir an Harukis Roman am interessantesten erscheint: Am Schluss der Erzählung gelangt der Protagonist in eine Art Zwischenreich, in dem keine Zeit vergeht, in dem es aber auch keine Veränderungen oder Erinnerungen gibt. Dort kann sich Kafka Tamura nicht weiterentwickeln, weshalb er aus seinem vermeintlichen Paradies flieht und in sein normales Leben zurückkehrt. 

Letztendlich ist dies das Thema von Kafka am Strand: Alle Figuren des Romans sind auf der Suche nach sich selbst, entweder weil sie einen Teil dieses Selbst vor langer Zeit verloren haben oder nicht wussten, was dieses Selbst ausmacht. Sie alle werden durch die Ereignisse dazu gezwungen, sich mit diesem unbekannten Selbst auseinanderzusetzen. 

Dabei besteht zwischen den beiden Ebenen insofern eine Parallele, als das die Hauptfiguren (Kafka Tamura - Frau Saeki; Hoshino - Herr Nakata) als Paare aus einem jungen und einem alten Protagonisten durch die Handlung schreiten. Dabei dienen die Alten als Katalysator für die Entwicklung der Jungen. Sie stoßen durch ihr Handeln die Entwicklung erst an, aus der die Jungen am Ende des Romans als ein anderer hervorgehen. Indem sie ihre Aufgabe erfüllen, zum Abschluss bringen, was sie begonnen haben, eröffnen sie den Jungen erst die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Konsequenter Weise sterben auch Frau Saeki als auch Herr Nakata, nachdem sie wieder »zu sich selbst« gefunden haben und durch das Öffnen des Eingangssteins ihrer verlorengegangene Hälfte wieder integrieren konnten, die ihnen beim ersten Öffnen des Eingangs verlorengegangen war. Durch die Vollendung des Einen wird die Entwicklung des Anderen erst ermöglicht. Das zeigt sich auch am Schluss des Romans, der recht unvermittelt abbricht und den Leser ohne Fazit dastehen lässt, wärend dieser den Aufbruch Kafka Tamuras in ein eigenständiges Leben beobachtet. – Was zu erzählen war, ist erzählt, was getan werden musste getan, es gibt nichts mehr weiter zu berichten. 

Auch die Bibliothek und der Wald haben innerhalb des Gefüges der Erzählung eine Bedeutung. Symbolisch gesehen ist die Bibliothek nicht nur der Ort, an dem man Bücher aufbewahrt, sondern auch ein Ort der Erinnerung bzw. ein Ort, an dem man Erinnerungen aufbewahrt. Für die Komura-Gedächtnis-Bibliothek gilt dies im besonderem Sinne: Sie ist einerseits der Ort, der an die Traditionen der Komuras erinnert, andererseits ist sie der Ort, an dem Frau Saekis Erinnerungen an ihren Geliebten hängen. Und ebenso, wie manchmal alte Erinnerungen an die Oberfläche des Bewustseins treiben, tauchen auch in der Bibliothek Bilder aus der Vergangenheit auf (die fünfzehnjährige Saeki). Der Wald kann dagegen als ein Symbol für das Buch gelesen werden. Ein unbekannter Ort, in den man eintauchen und in dem man sich verirren kann. Ein Ort, an dem man die Zeit vergisst, an dem die Zeit nicht einmal existiert. Insbesondere der Ort im Inneren des Waldes steht dafür, er symbolisiert die Erzählung, deren Ereignisse sich niemals verändern, sooft man das Buch auch aufschlägt. Dort gibt es – kann es keine Veränderung geben. 

Darin liegt auch der Grund verborgen, warum Kafka Tamura in die reale Welt zurückkehren muss. Es gilt, ein ein Leben zu leben, was man nicht kann, wenn man sich in den Seiten eines Buches verliert. Mit dem Ende jedes Buches ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man es beiseitelegen muss, um weiter sein Leben zu leben. Als letztes Indiz dafür mag dienen, dass in dem Ort ohne Zeit eine Bibliothek existiert, in der keine Bücher stehen, ebenso, wie die Bewohner des Ortes keine Erinnerungen haben. Denn in einem Buch selbst können keine Bücher existieren – es gibt sie nur dem Namen nach.

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