Warum sich als Autor und Literaturblogger mit einem japanischen Computerspiel und der dazugehörigen Zeichentrickserie befassen? Diese Frage könnte man sich stellen, wenn man vom üblichen Klischee ausgeht. Viele würden sogar sagen, dass beides mit Literatur nichts zu tun hat. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass die Pokémon jenseits der Bereiche „guter“ Kinderliteratur über Jahre das Spiel, Rezeptions- und Konsumverhalten zahlreicher Jugendlicher nachhaltig geprägt haben und nun in der Vorstellungswelt der Kinder verankert sind. Grund genug, sich die mit Beidem auseinander zu setzen.
Es wäre auch falsch, die Pokémon so ohne weiteres als „Schund“ abzutun, denn auch wenn sie pädagogisch zweifelhaft sein mögen, kann man ihnen nicht absprechen, dass sie ein geschickt gemachtes Instrument zur Vermarktung eines Produktes sind. Indem der gesamte Pokémon-Komplex alle Bereiche der Lebenswelt seiner jugendlichen Konsumenten (und nicht nur diesen) mit Computerspielen, Fernsehserien und Merchandisingartikeln durchsetzt, bleibt diesen kaum eine Chance, sich ihm zu entziehen - eine Wirkung, die ein schnell und oberflächlich hingeworfenes Konzept niemals hätte erreichen können.
Die Pokémon entstanden Mitte der 90er Jahre 1 als Computerspiel für den Gameboy 2 der Firma Nintendo und können in gewisser Hinsicht als Nachfolger des Tamagotchis 3 betrachtet werden, wobei sich ihr Name aus dem englischen “Pocket” und “Monster” zusammensetzt 4. Erste Konzeptionen zu diesem Spiel wurden im Jahre 1990 entworfen und über einen Zeitraum von sechs Jahren entwickelt, wobei sich der Erfinder des Spiels, Satoshi Tajiri, von der Idee eines Grillenkampfes inspirieren ließ 5. In Deutschland (wie auch in anderen Ländern) wurde die Vermarktung der Pokémon durch eine massive Marketingkampagne eingeleitet, die sukzessive die jugendliche Kundschaft auf das zu kaufende Spiel vorbereitete. Bevor dieses überhaupt erhältlich war (im Jahr 1999) 6, strahlte der Privatsender RTL II die gleichnamige Zeichentrickserie aus, in der anhand eines Protagonisten namens „Ash“ der Spielverlauf erzählerisch dargestellt wurde 7. Erst dann folgte die Lancierung des Spieles auf dem Markt einschließlich der dazugehörigen Merchandisingartikel wie z. B. Stofftiere, Kugelschreiber, Blöcke, Tassen usw. Später wurde die Palette der Pokémon-Spiele um die sog. “Editionen” enreitert, die dasselbe Spiel mit anderem Figurenbestand darstellten. Von Anfang an wurden pro Edition zwei leicht verschiedene Versionen des Spiels ausgegeben, deren Figuren via Datentransfer von einer zur anderen Spielkonsole übertragen werden konnten. Die marketingtechnische Verbindung eines Computerspiels mit Merchandisingartikeln, Comic-Büchern (Mangas) und Zeichentrickserien (Anime) entspricht der üblichen Vorgehensweise der japanischen Spiele- und Medienindustrie. Sowohl werden Manga und Anime in Computerspiele als auch Computerspiele in Manga und Anime umgesetzt, wobei die Pokémon hier keine Ausnahme bilden 8. Jean-Marie Bouissou schreibt hierzu :
»The japanese pop culture industry recreated on a worldwide scale the process that led to its enduring process at home, trough the marketing of licensed goods, videos and plastic toys en masse. Since the bulk of profit comes from these goods, manga and TV-Series can be sold at almost no profit. Their Function is not to make big money, but to open the way to licensed goods. […] Manga help to ascertain the taste of the consumers, then are used as trendsetters. They bring only a meager profit, but are unvaluable tools for merchandizing and advertizing. TV-Series provide hours and hours of free advertizing.« 9
Bindungsstrategien
Das Konzept der Pokémon (Spiel und Serie) stellt eine geschickte Verbindung zwischen verschiedenen menschlichen Bedürfnissen her, um auf diese Weise das zu verkaufende Produkt an das Kind zu bringen.
Da wäre zunächst der Wunsch nach einem Gefährten, mit dem man spielen kann und für den man - in einem gewissen Rahmen natürlich - verantwortlich ist. Dieser Aspekt, den man auch den Pflegeaspekt nennen könnte, ist vom Tamagotchi übernommen. Es geht aber nicht nur darum, sich um seinen Spielgefährten zu kümmern. Als „Trainer“ hat man die Macht, über die Entwicklung und Fähigkeiten seines Pokémons zu bestimmen. Letztendlich wird Pflege auf Dressur bzw. Training reduziert und mit Macht gleichgesetzt.
Als zweites Bedürfnis kommt der Sammeltrieb ins Spiel, der im Untertitel der Serie aufscheint: “Schnapp sie dir alle”. Er dient im Wesentlichen dazu, die Motivation zum Spielen aufrecht zu erhalten. Gestützt wird dies durch die Möglichkeit, Pokémon-Daten auszutauschen. Ähnliches geschieht im Falle der Sammelkarten, die Spiel- und Sammeltrieb in einem Produkt befriedigen und so gewissermaßen ihr eigenes Merchandising betreiben, da sie den Bedarf nach neuen Karten ständig neu anfachen (Eine Eigenschaft dieser Spiele, die man als ethisch fragwürdig ansehen kann, weil sie die Spieler in ein Abhängigkeitsverhältnis setzt, aber dafür ökonomisch um so effizienter ist.).
Das dritte Bedürfnis ist das Verlangen nach Wettstreit. Indem man sein Pokémon gegen andere Pokémon antreten lässt, kann man feststellen, ob man das Spiel beherrscht - also ein guter Trainer ist oder nicht. Auch hier wird durch die Möglichkeit, gegen einen Freund zu spielen, die Bindung an das Spiel verstärkt.
Indem man nun die oben genannten Bedürfnisse in einem Produkt miteinander vereint, bietet sich für das Marketing eine Vielzahl von Möglichkeiten, den kindlichen Kunden an das Produkt zu binden. Das Bedürfnis nach einem Gefährten, der im Falle der Pokémon auch noch pflegeleicht ist und abgestellt werden kann (was sehr bequem ist), wenn man keine Lust auf ihn hat, erzeugt eine emotionale Bindung an das Spiel, die nicht übersehen werden darf. Nicht umsonst ist Pikachu eines der Haupt-Pokémon innerhalb der Serie, obwohl Pokémon vom Pikachu-Typ spieltechnisch gesehen allenfalls als durchschnittlich effiziente Spielfiguren anzusehen sind. Kubo Masakazu, verantwortlich für das Marketing der Pokémon-Filme, erklärt dies folgendermaßen:
»I believe that Pokémon’s success owes largely to our having placed Pikachu in a leading role. As people who have played any of the Game Boy versions of Pokémon know, this character is of little use in the video game; but it was just right for starring in the anime. First, it is cute enough to attract just about any woman, thanks to a winning character design. Second, the coloring is excellent. Yellow really stands out to the human eye; it is one of the three primary colors and also one of the traffic-light colors. On a traffic light, yellow signifies caution. The meanings of these signals are something that has been imprinted in people’s unconscious minds, so yellow and red characters are attention-getting. Yellow is better than red, moreover, because there are very few competitors of that color. The only other famous yellow character that l can think of is Winnie-the-Pooh, which means that when people see Pikachü from a distance, they could mistake it for Pooh but for no other character. This is very important in terms of easy recognition« 10
Aufgabe der Serie ist es nun, den Kindern anhand einer protoypischen Figur zu vermitteln, wie man das Spiel “richtig” spielt. Die prototypische Figur führt vor, wie man die verschiedenen Spielfiguren geschickt einsetzt, schafft die Illusion einer Welt um das Spiel, die dieses allein nicht erzeugen könnte. Die Pokémon bilden in dieser Welt eine Art materieller Schutzgeister, deren Fähigkeiten den Protagonisten vor den Gefahren seiner Welt schützen.
Zudem baut die Serie ein Wertesystem auf, welches die Welt des Spiels organisiert und erläutert. Neben der simplen Differenz zwischen Gut und Böse, die durch Ash samt Begleitern und seinen Gegnern vom Team Rocket aufgespannt wird (wobei der Unterschied nicht wirklich klar herauszukristallisieren ist, bleiben doch „Gut“ und „Böse“ seltsam leer), könnte man die Arenaleiter und Dr. Eich als Repräsentanten der Erwachsenenwelt ansehen, die aber nur am Rande der Handlung eine Rolle als limitierendes Element oder Ratgeber spielen. Indem die Welt der Pokémon im Wesentlichen eine Welt der Kinder und Jugendlichen ist, erleichtert sie die Identifikation der Kinder mit ihren „Helden“ 11.
Die Verschmelzung von Unterhaltung und Marketing
Die Pokémon-Zeichentrickserie ist - obwohl erzählerisch simpel - im Zusammenspiel mit dem zugrunde liegenden Spiel und den diversen Merchandisingartikeln ein effizientes Werkzeug zur Vermarktung eines Produkt- Komplexes. Sie bietet dem Produzenten des Spiels regelmäßige, kostenlose Werbung, die zudem in harmloser Gestalt daherkommt, so dass ihr Werbecharakter für die Rezipienten nicht offensichtlich ist. Hierbei kommt der simplen und sich ständig wiederholenden Erzählweise die Bedeutung zu, die Werte und Inhalte des Spieles zu transportieren, um die Kinder auf das zu kaufende Spiel einzustimmen.
Sie illustriert die dem Spiel zugrunde liegenden Prinzipien des Trainierens, Sammelns und Wettstreitens und gibt ihm einen Hintergrund, den das Spiel alleine nicht erreichen könnte. Dabei ist es wichtig, zwischen animespezifischen und nur für die Pokémon charakteristischen Stilelementen zu differenzieren, will man verstehen, wie die Serie aufgebaut ist. Erst wenn man klar erkennen kann, was über den Merchandising-Charakter der Serie hinausweist, ist man in der Lage, in ihr mehr zu sehen als ein schrilles Spektakel zur Beeinflussung von Kindern. Erst dann kann verstehen, warum die Pokemon seit fast dreizig Jahren erfolgreich sein können.
Im Folgeartikel wird es eine kleine Einführung in die Welt der Mangas und Animes geben.
- 1996. vgl. umw.characterproducts.com/info/character_historys/Pokémon_doon~ay.htm↩
- Ein kleines, tragbares Videospielgerät.↩
- Das Tamagotchi könnte man als elektronisches Haustierbezeichnen, welches in Form eines kleinen, eiförmigen Videospiels daherkommt. Das Tamagotchi entwickelt ähnlich wie ein echtes Haustier nach seiner Aktivierung ein programmiertes Eigenleben mit Bedürfnissen (z. B. Hunger) und Eigenheiten (es kann z. B. brav oder ungezogen sein). je nach dem, wie man sein Tamagotchi erzieht, entwickelt es sich zu einem guten oder bösen Tier, wobei die jeweilige Entwicklung an einem kleinen LCD-BiIdschirm zu sehen ist (in Form eines kleinen Cartoon-Tieres).↩
- ln einer anderen Variante leitet sich Pokémon aus dem japanischen Poketto Monster ab, was ebenfalls soviel wie „Taschen Monster“ bedeutet. vgl. www.characterproducts.com/info/character_historys/Pokémon_doon~ay.htm.↩
- vgl. characterproducts.com/info/character_historys/Pokémon_doon~ay.htm.↩
- vgl. Retter, Hein:, „Kinderspiel zwischen Medien und Kommerz - Zum Wandel des Spiels in der gegenwärtigen Gesellschaft“, Abschnitt 4, Tübingen 20m; http://umwtu-bsde/institute/allg-paedagogik/kinderspiel.htm. (lm Folgenden zitiert als „Kinderspiel zwischen Medien und Kommerz“.).↩
- Der Pokémon-Serie war übrigens ein immenser Erfolg zu eigen, wie folgendes Zitat belegen mag: „In order to first categorise the use quantitatively here is a GfK ratings data sheet for Germany. ln the first half of 2000 over one million watched the programme that was transmitted at 2.45pm every day. The age structure, i.e. the age groups over which the viewers are distributed, shows that it is chiefly children who watch the programme. Pokémon appeals to boys and girls, rather more boys watching it. The market share, ie the figure that indicates what percentage of the respective age groups had their television sets switched on for this programme, indicates the enormous success of the programme, especially in the group of the 6-9-year-olds.« (AGF/GfK PC#TV; IP Deutschland). Götz, Maya:, „What fascinates children about Pokémon?“; Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZl); München 2001.↩
- Sie sind - nebenbei gesprochen - ein Beispiel für den ersten Fall (Computer zu Film und Comic).↩
- Bouissou, Jean-Marie: »Manga goes global«, Abs. 1-4, www.ceri-sciencespo.com/archive/avrilOO/artimb.htm↩
- Er erwähnt übrigens zuvor, dass Pikachu nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mütter attraktiv sein sollte. vgl. Kubo Masakazu:, “Why Pokémon Was Successful in America”; http://www.japanecho.co.jp/docs/html/270217.html↩
- Hein Ritter schreibt hierzu: »Die emotionale Bindung des Kindes an die Produkte geschieht durch Identifikation. Durch Identifikation des Jungen etwa mit den superstarken Power Rangers, den Serienhelden von Fernsehfilmen, mit starken und damit wertvollen Pokemons erfolgen tiefgreifende Prägungen der Konsumbedürfnisse; die ldentifikationsfiguren werden durch Film, Comic, Computerspiel, Tonkassetten und Figuren auf vielfache Weise im Wertbewussts ein der Kinder verankert«. vgl. Retter, Heim, „Kinderspiel zwischen Medien und Kommerz“, Abschnitt 4, Tübingen 2000.↩
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