Dienstag, 4. Juli 2017

Dem Leser bist du als Autor egal - Bücher als Commodity


Es wird viel darüber geredet, welche Werbemaßnahmen die Besten wären, um ein Independent-Buch zu bewerben. Dabei wird aber übersehen, dass man sich erst einmal darüber klar werden sollte, um welche Kategorie von Ware es sich tatsächlich handelt. Erst wenn man sich darüber im Klaren ist, kann man entscheiden, welche Werbemaßnahmen wirklich effektiv sind. Im Folgenden will ich dazu ein paar erste, noch rohe Gedanken formulieren.

Bücher werden von den Lesern als Commodity gesehen 1. Damit stehen sie im Gegensatz zur Musik, Film oder der bildenden Kunst, die untrennbar mit dem Künstler verbunden sind. Es ist dem durchschnittlichen Leser egal, von wem der spezifische Roman ist, solange er die Erwartungen erfüllt. Tut er es nicht, so besteht (gerade nach der Öffnung des Buchmarktes durch das Self Publishing) fast grenzenlos die Möglichkeit, auf ein beliebiges anderes Buch auszuweichen.

Darin ist m. E. auch einer der Gründe zu sehen, warum Lesungen nicht angenommen werden. Da in der Regel der Autor (sofern er nicht schon einen überregionalen Bekanntheitsgrad besitzt) nicht als Teil des Produktes “Buch” wahrgenommen wird, bietet eine Lesung per se keinen zusätzlichen Mehrwert. Sie ist vielmehr sogar mit Aufwand verbunden (Anfahrt, eventuell Eintritt, man muss zuhören etc.). Man muss also den Sprung von der Commodity zur Marke schaffen.

Eine kleine Umfrage in der Facebook-Gruppe Bücherwürmer (n=61) hat ergeben, dass über 90 % der Befragten sagen, dass der Inhalt das entscheidende Kriterium für einen Buchkauf ist 2. Der Autor ist zweitrangig. Wenn der Inhalt allerdings überzeugt hat, ist eine kleine Minderheit bereit, auch weitere Bücher desselben Autors zu kaufen. Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss, dass man eine Lesung, so sie erfolgreich sein soll, mit Mehrwert anreichern muss (Musik, essen, Szenische Auführung, Video etc.). Die Lesung ist also nicht nur eine einfache Präsentation des Buches, sondern wird zu einer Art Gesamtkunstwerk, dass über das Buch hinausgeht. Hilfreich ist dabei, das Rahmenprogramm passend zum Genre zu wählen. Im Falle eines Krimis wäre das zum Beispiel eine Lesung mit angegliederter Verköstigung und Enacting, in anderen Fällen ist vielleicht Musikbegleitung oder die Anwendung von Projektionen sinnvoll.

Ähnliches gilt für Merchandise. Man sieht oft, dass sich gerade “junge” Autoren mit einem riesigen Angebot an Merchandizing-Artikeln eindecken (Lesezeichen, Schlüsselanhänger, Tassen, Kugelschreiber etc.). Das Anbieten von Merchandisingartikeln macht aber gerade zum Start einer Buchreihe wenig Sinn, da man noch keine Fanbase erreicht hat, die sich für solche Artikel interessieren könnte. Es macht also keinen Sinn, sich mit großen Mengen an Artikeln einzudecken, da man wahrscheinlich auf den meisten Stücken sitzen bleiben wird.

Besser ist es, soweit möglich, nur wenige, spezifisch auf das Genre und Thema des Buches bezogene Artikel vorzuhalten und sich nicht zu große Hoffnungen zu machen, über das Merchandizing signifikante Werbeeffekte zu generieren. Man kann, während man seine Autorenpräsenz Buch für Buch aufbaut, das Angebot schrittweise erweitern, wobei Merchandizing immer nur eine unterstützende Maßnahme sein kann, um bestehenden Fans eine zusätzliche Möglichkeit zur Bindung zu bieten. Neue Leser wird man so weniger gewinnen.

Wie aber kommt man aus der Commodityfalle heraus?

Eines vorweg: Es gibt aus der Commodity-Falle keinen kurzen Weg. Solange Bücher als austauschbare Ware gesehen werden, bleibt dem Autor nur der langsame Aufbau seiner Reputation. Simples marktschreierisches Gehabe reicht nicht. Reputation baut man zum Beispiel dadurch auf, dass man nicht nur auf die Leser eingeht, sondern ihnen zeigt, dass man sich um ihre Anliegen kümmert, aber auch dadurch, dass man Autoren-Kollegen beweist, dass man ein verlässlicher Kooperationspartner ist.

Das mag für manche Zeitgenossen, die das neoliberale Me, Myself, and I-Prinzip zu weit verinnerlicht haben, schwer nachzuvollziehen sein, aber tatsächlich sind Autoren, mit denen man zusammenarbeiten kann und die vielleicht sogar zu Freunden werden, Multiplikatoren für die eigene Kunst, ebenso wie du selbst zum Multiplikatoren für deine Kollegen wirst. Es geht dabei ausdrücklich nicht darum, das Wissen oder die Verbindungen von jemand anderen abzugreifen, sondern um eine Idee, die inzwischen fast schon vergessen wurde: Solidarität.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass je mehr ich mit anderen zusammen auf die Beine stelle, je mehr wir uns gemeinsam helfen, desto mehr Möglichkeiten haben sich für uns alle entwickelt. Das fängt damit an, dass man zusammen Lesungen hält, auf Cons gemeinsame Stände aufmacht oder aber seine Texte gegenseitig Korrektur liest. So baut sich gegenseitiges Vertrauen auf, dass über den bloßen Austausch hinausgeht und für alle neue Möglichkeiten eröffnet.

  1. Eine Commodity ist eine beliebig austauschbare Ware, bei der sich das Einzelstück nicht durch spezifische Eigenschaften, sondern nur durch den Preis unterscheidet. Die Wikipedia schreibt hierzu Folgendes: “The term commodity is specifically used for an economic good or service when the demand for it has no qualitative differentiation across a market. In other words, a commodity good or service has full or partial but substantial fungibility; that is, the market treats its instances as equivalent or nearly so with no regard to who produced them.” (Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Commodity). Commoditys sind zum Beispiel Rohstoffe wie Metall und Kohle, aber auch Produkte wie zum Beispiel Taschentücher, Gemüse und vieles mehr. In manchen Fällen ist nicht wichtig, ob es sich tatsächlich um einheitliche und “eigenschaftslose” Waren handelt, sondern vielmehr, dass ein Produkt als Commodity wahrgenommen wird.
  2. Natürlich ist eine Zahl von rund 60 Befragten weit davon entfernt, repräsentativ zu sein, lässt aber zumindest eine Tendenz erahnen und wahrscheinlich das Beste, was man als Self Publisher ohne echte Ressourcen für die Marktforschung erreichen kann.

Dienstag, 27. Juni 2017

Zehn Thesen zum Thema Professionalisierung im Self- und Independent Publishing

Es gibt eine Ausdifferenzierung der Indie-Szene in Hobbyisten und (Semi)Professionelle. Während die Hobbyisten im Wesentlichen nur für ihre eigene Freude schreiben, sehen die professionellen Indie-Autoren / Self Publisher ihr Schreiben nicht nur als Leidenschaft an, sondern haben den Anspruch, Literatur als ein (künstlerisches) Produkt herzustellen, für das die Leser bereit sind, Geld auszugeben. Daraus lassen sich einige Punkte ableiten, die einen Indie Autoren / Self Publisher auf dem Weg zur Professionalisierung ausmachen:
  1. Für den professionellen Indie Autor / Self Publisher ist das Schreiben nicht nur Leidenschaft, sondern auch ein Geschäft. Das Buch soll sich verkaufen.
  2. Der Indie Autor / Self Publisher richtet seine Veröffentlichungstätigkeiten nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus.
  3. Der Indie Autor / Self Publisher sieht sich als Entrepreneur, der ein Produkt (das Buch) unter hohem Risiko auf den Markt bringt.
  4. Der Indie Autor / Self Publisher versucht nicht nur, ein guter Schreiber zu sein, sondern auch, seine Kenntnisse, was die Produktion und Vermarktung von Büchern angeht, zu erweitern.
  5. Der Indie Autor informiert sich über neue technische und verlegerische Möglichkeiten und nutzt diese, soweit sinnvoll. D. h. er isher versucht, seine Produktionsprozesse fortwährend zu optimieren.
  6. Der Indie Autor / Self Publisher hält seine Kosten im Blick und plant seine Autorentätigkeit strategisch.
  7. Der Indie Autor / Self Publisher behält die Wünsche seiner Kundenbasis im Blick.
  8. Der Indie Autor / Self Publisher geht Kooperationen mit anderen Autoren zum gegenseitigen Nutzen ein.
  9. Der Indie Autor / Self Publisher geht angemessen und professionell mit Dienstleistern, Kooperationspartnern und Kunden (Lesern) um.
  10. Der Indie Autor / Self Publisher versteht sich als Teil der Selfpublisher-Szene und ist bestrebt, ihre Entwicklung voranzutreiben.

Donnerstag, 6. April 2017

Manchmal wird ein Ertrinkender gerettet


Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Gespräch mit einem älteren Arbeitskollegen, der etwas sehr Weises gesagt hat, ohne es selbst wirklich zu bemerken. Es war eigentlich eines dieser Flurgespräche, die man so führt, wenn man unterwegs ist, weil man etwas zu erledigen hat, aber das Ergebnis weißt weit darüber hinaus.

Mein Kollege hatte gerade das Büro betreten und war in mein Zimmer gekommen, um mir guten Morgen zu sagen. Da fiel ihm auf, dass der Ficus auf meinem Schreibtisch neue Blätter hatte wachsen lassen. Das war lange Zeit nicht so, weil er Anfang des letzten Jahres sämliche Blätter abgeworfen hatte und nur noch ein Skelett aus Ästen übrig geblieben war. Die Ursache lag darin begründet, dass ich und meine Kollegen, die sich das Büro mit mir teilen, es zu gut mit dem Baum gemeint hatten. Wir hatten nicht abgesprochen, wer in den Wintermonaten den Baum gießen sollte und so hatte jeder ordentlich Wasser in den Blumentopf geschüttet. Die Folge davon war, dass er schlicht ertrunken war. Mein Arbeitskollege meinte jedenfalls:

"Oh, der hat sich aber gut erholt! Hat ja wieder richtig viele Blätter. Das war ja nicht immer so."

"Wir haben es damals zu gut mit dem Baum gemeint. Jeder hatte gedacht, die Anderen hätten den Baum nicht gegossen und so ist er dann ertrunken."

"Ah, das erklärt Einiges. Der sah ja nicht mehr ansehnlich aus, so als Gerippe. Ich hab mich gewundert, dass Sie den damals nicht einfach weggeschmissen haben."

"Ich wollte den Baum nicht einfach aufgeben – Jeder hat eine zweite Chance verdient."

Mein Kollege sah sich den Baum einige Sekunden ruhig an, dann sagte er:

"Herr Sandhoff, wissense was, manchmal kann man Ertrinkende retten!"

Mittwoch, 22. März 2017

Die Einsamkeit des Autors in der Lesung: Ein Erfahrungsbericht

Lesungen zu halten ist für Autoren oft erstrebenswertes Ziel und angstbehaftete Vorstellung zugleich. Dennoch sind Lesungen ein wichtiger Schritt, den jede(r) Autor(in) machen sollte, weil es der einzige Weg ist, mit der Leserschaft wirklich in Kontakt zu treten. Ein großes Problem, vor dem auch erfahrene Autoren stehen, besteht aber darin, die Leser zur Teilnahme an der Lesung zu motivieren. Jörg Benne, Autor des Fantasy-Romans „Die Stunde der Helden“, kann ein Lied davon singen und hat sich bereit erklärt, uns seine Erfahrungen in einem kurzen Bericht zu schildern.

Wenn man nicht gerade Markus Heitz oder Kai Meyer heißt, hat man es als Fantasy-Autor mit Lesungen schwer. Die junge Klientel schaut lieber Game of Thrones im TV, als auf Lesungen zu gehen und die älteren, die gern Lesungen besuchen, winken beim Thema Fantasy ab. Aber bei den vielen Rollenspiel-Cons, die über das Jahr stattfinden, hat man die jungen Leute doch vor Ort, dachte ich mir. Da kann man sicher ein paar für eine Fantasy-Lesung begeistern. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte – dazu hier ein kleiner Erfahrungsbericht.

Mein erster Versuch war im Juli 2015 auf der FeenCon in Bonn. Hier kamen zwei Dinge zusammen: Erstens das heißeste Wochenende des Jahres mit 39° (viele erinnern sich sicher), was dazu führte, dass man es in der Stadthalle Bad Godesberg kaum aushalten konnte und die wenigen Besucher sich lieber in den Außenbereichen herumtrieben. Zweitens mein Unwissen, dass solche Wochenend-Cons am Sonntag oft nur noch austrudeln und somit deutlich weniger Besucher da sind. Beides zusammen führte dazu, dass sich niemand in dem stickigen Raum für die Lesung einfinden wollte und ich unverrichteter Dinge von dannen ziehen musste.

Anfang August war ich dann auf der RatCon in Unna (die mittlerweile nach Limburg umgezogen ist). Die war deutlich besser besucht, diesmal hatte ich meine Lesung auch am Samstag. ABER zum einen wurde das damals brandneue „Das Schwarze Auge 5“ in mehreren Workshops präsentiert, die viele Leute abzogen und zweitens wurden die Lesungen in einen abgelegenen Raum abgeschoben, wohin sich kaum einer verirrte. Immerhin, zwei Zuhörer hatte ich diesmal, eine davon war die Kollegin Judith Vogt, bei der ich zuvor zugehört hatte.

Wenig später folgte die MantiCon in Heppenheim, die Hausmesse meines Verlages. Die Starkenburg war eine tolle Location, leider brachte die Auktion von Rollenspiel-Utensilien den Zeitplan total durcheinander, so dass ich auch hier nur zwei Zuhörer begrüßen durfte – mit dem Verleger Torsten Low auch diesmal wieder einen „Kollegen“, dessen Lesung ich zuvor besucht hatte.

Damit hatte ich dann auch den Kaffee auf, wie man bei uns im Ruhrgebiet sagt. Rollenspiel-Cons ziehen zwar viele Fantasy-Begeisterte an, aber die wollen in erster Linie an Testrunden teilnehmen und über ihr Hobby fabulieren, Lesungen sind da allenfalls als Pausenfüller von Interesse. Da braucht man auch ein bisschen Glück, damit die eigene Lesung auch in eine solche fällt, es besteht also erhöhte Frustgefahr, wenn man dort eine Lesung ausrichtet.

Aber es gibt auch eine Ausnahme: Den BuCon, der jedes Jahr zeitgleich zur Frankfurter Buchmesse in Dreieich stattfindet und sich nur um Bücher dreht. Dort hat man jede Menge Zuhörer, das hat sich allerdings auch unter Autoren längst herumgesprochen, so dass es immer deutlich mehr Bewerber als Leseslots gibt. Aber den Versuch ist es jedenfalls wert. Vielleicht habe ich ja dieses Jahr Glück.

Über den Autor:
Jörg Benne erblickte 1975 in Bottrop-Kirchhellen das Licht der Welt und begann schon in der Grundschule Geschichten zu verfassen. In der Jugend begeisterte er sich für Phantastik und vollendete seinen ersten Fantasy-Roman mit 20, fand dafür auch einen Verlag, erlebte bei der weiteren Zusammenarbeit, die schließlich im Sande verlief, aber eine bittere Enttäuschung und wandte sich vorübergehend vom Schreiben ab.

Erst um 2006 begann er wieder mit dem Schreiben und vollendete 2008 den Roman „Das Schicksal der Paladine – Verschollen“, der 2012 im Koios-Verlag als sein Debut erschien, zwei weitere Teile folgten. Aktuell arbeit er an weiteren Fantasy-Romanen in der Welt von Nuareth.

Sein aktueller Roman ist "Die Stunde der Helden", erschienen im Mantikore Verlag 2015.

Weitere Informationen findet ihr auf seiner lesenswerten Website: http://joergbenne.de

Einen Einblick in die Welt von Nuareth könnt ihr hier bekommen: http://bit.ly/heldentaten_lf

Samstag, 4. Februar 2017

Kann Fantasy auch politisch sein?

Fantasy bzw. phantastische Literatur wird in der Regel nicht als politisch wahrgenommen. Aber ist das wirklich so? Ist Fantasy nicht reiner Eskapismus, der sich mit Welten weit jenseits der Realität befasst? Ein genauer Blick zeigt, dass Fantasy sehr wohl auch politische Themen aufgreifen kann, auch wenn das nicht immer so offensichtlich geschieht.

Das Klischee vom Fantasykonsumenten sieht jedenfalls anders aus. Fantasy ist angeblich etwas für versponnene Personen, die miit der Realität nicht zurechtkommen und sich deshalb in eine eingebildete Welt mit klaren Strukturen von schwarz und weiß bzw. gut und böse flüchten. Tatsache ist, dass viele Fantasy-Romane (insbesondere solche, die mehr oder weniger dreist bei Tolkien abkupfern) dieses Klischees bedienen, um schnelle Leseware auf den Markt zu werfen.

Zu behaupten, dass Fantasy aber nichts weiter wäre als billige Unterhaltungsware, ist völlig falsch. Gute Fantasy mag zwar keinen offensichtlichen Bezug zu unserer Realität haben, weil sie nicht realistisch in dem Sinne ist, dass sie die Ereignisse in unsere Welt abbildet (sie ist nicht mimetisch), sie vermag dennoch etwas über unsere Welt auszusagen. Dass ihr diese Fähigkeit in schöner Regelmäßigkeit abgesprochen wird, liegt wohl auch daran, dass ein unter Kritikern und Literaturwissenschaftlern weit verbreitetes, wenn auch nicht immer ausgesprochenes) Vorurteil lautet, gute Literatur habe im wesentlichen mimetisch zu sein 1, von einigen künstlerischen Eskapaden bedeutender Autoren einmal abgesehen. Ich stelle hier die These auf, dass Fantasy keinen abbildenden Charakter hat, sondern im Wesentlichen ein simulationistisches Genre darstellt. Es zeigt uns nicht so sehr in künstlerisch verbrämter Form, was ist, sondern dass, was sein könnte, wenn man bestimmte Prämissen anders setzen würde. Das gilt ganz allgemein für die phantastische Literatur, nicht nur für die klassische Fantasy-Story, wie ich sie verstehe 2. Nicht umsonst sind auch die Utopie und die Dystopie Teil der phantastischen Literatur, ebenso wie man im weiteren Sinne die Science Fiction dazuzählen kann.

Tolkien zum Beispiel erzählt uns in seinen Kunstmythen um seine Welt Mittelerde nicht nur Geschichten über den Kampf des Guten gegen das Böse – das ist nur der offensichtliche Teil – sondern gibt uns auch eine Lektion in ökologischem Denken. Das beginnt schon im Simarillion, wenn die Valar in die Musik Illuvatars mit einstimmen und Melkor versucht, seine eigene Melodie in den Gesang miteinzubringen. Jenseits der offensichtlichen Bedeutung der Auflehnung gegen einen Schöpfergott findet man hier unterliegend noch ein weiteres und meines Erachtens tiefergehendes Motiv. Melkor versucht in den Lauf der Natur einzugreifen und diese nach seinem Willen zu formen. Dies wiederum führt aber dazu, dass ebendiese Natur geschädigt wird.

Dieses Grundmotiv setzt sich auch in vielen anderen Erzählungen Tolkiens fort und zieht als ein Grundstrang durch sein gesamtes Werk. Nicht umsonst nutzen die “Bösen” Technik, um sich ihre Gegner und letzendlich die Welt selbst zu unterwerfen, was zu weitreichenden Zerstörungen und Krieg führt. Im Gegensatz dazu herrscht weitgehend Frieden bei denen, die mit der Natur in Einklang leben, so zum Beispiel in Galadriels Reich, in Fangorn, bei Tom Bombadil usw. Das heißt aber nicht, dass diese Orte des Friedens vor der Zerstörung geschützt wären. Die soziale Sphäre wird durch die Technik ebenso bedroht wie Natur selbst, von der die erstere abhängt.

Ein anderes Beispiel aus der Fantasy im weiteren Sinne sind die Harry Potter Bücher, in denen es nicht nur um die Abenteuer des heranwachsenden Zauberers und seiner Freunde geht, sondern auch um Themen mit eindeutig politischem Charakter: Da ist zum einen der offenkundige Rassismus der Todesser und ihrer faschistoiden Hierarchie, dann das Thema des zivilen Ungehorsams, aber auch die Kritik am Spießertum, wie es durch die Dursleys verkörpert wird.

Man kann sich auch “Traumfinder” von Roger Taylor ansehen, in dem es letztendlich um die Auswirkungen von Propaganda und Manipulation geht, oder “die fernen Königreiche”, die zeigen, wie sehr Gier und Macht Menschen verbiegen können oder auch die Erdsee-Bände von Ursula K. Le Guin in denen neben grundsätzlichen philosoph-existenziellen Fragen auch ein ganzes Bündel an politischen Themen abgehandelt wird.

Doch wozu das alles? Wie schon gesagt gehe ich davon aus, dass Literatur, sei sie nun realistisch-mimetisch oder simulationistisch-fantastisch, uns immer zeigt, was sein könnte. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Geschichten liegt im Wesentlichn darin, dass sich die Parameter der angenommenen Welt ändern, so dass sich ein Spektrum vom Realistischen hin zum Phantastischen ergibt. Auf diese Weise wird es uns als Menschen, Autoren, Lesern möglich auszuloten, was sein könnte, so dass wir durch die Literatur die Chance bekommen, uns Alternativen zum allgemein akzeptierten Lauf der Dinge vorzustellen. Sie sagt uns “So wie es ist muss es nicht unbedingt sein! Es könnte auch anders anders sein.”. Nicht umsonst fordern die Protagonisten vieler (fast aller) Erzählungen den akzeptierten Stand der Dinge heraus. Und vermutlich ist das auch der Grund, warum autoritäre Machthaber immer auch die Künstler angreifen, die sich nicht sofort dem System anbiedern, weil sie wissen, wieviel Macht eine Erzählung entwickeln kann.

Anmerkungen

  1. “Mimetisch” bezieht sich in diesem Falle nur auf die Inhaltsebene insofern, als das diese vorgibt die Welt “wie sie ist” abzubilden. Das bezieht sich nicht auf die äußere Form der Narration, die das gesammte Spektrum von naturalistisch dem Lauf der Ereignisse folgend sein kann (z.B. im “Bahnwärter Thiel”) oder aber fragmentiert wie in “Mutmassungen über Jakob” oder “Manhattan Transfer” – beide geben vor, in unserer Welt zu Spielen.
  2. Für mich ist die eigentliche Fantasy definiert durch die Subgenres der High Fantasy und der Sword and Sorcery, die den Ursprung dessen bilden, was heute als Fantasy bezeichnet wird. Alle anderen Erzählungen würde ich zum weiten Feld der “Literatur des Phantastischen” zählen, die alle mehr oder weniger phantastische Elemente, aber nicht eine von uns unabhängig existierende Welt mit eigenen Gesetzlichkeiten beinhaltet, die zwar durch Protale wie den Schrank in C.S. Lewis Narnia-Romanen erreicht werden kann, aber trotzdem nach eigenen Regeln funktioniert.