Freitag, 2. Oktober 2015

Der Perspektivenwechsel ist böse...


Zumindest dann, wenn man den zahlreichen gängigen Schreibratgebern Glauben schenken möchte. Der Grund dafür ist vermutlich darin zu suchen, dass er zu den anspruchsvolleren Erzähltechniken gehört, die man nicht mal eben so realisiert. Da außerdem die meisten Schreibratgeber (außer vielleicht das wunderbare »Über das Schreiben« von Sol Stein) eher darauf abzielen, dem angehenden Autor ein kommerziell orientiertes Schreiben beizubringen, hört (ließt) man immer wieder, dass man Perspektivwechsel zu vermeiden hat.

Um es vorweg zu sagen: Das ist völliger Blödsinn! Ohne die Technik des Perspektivwechsels als künstlerisches Mittel hätte es künstlerisch anspruchsvolle Bücher wie John Dos Passos Manhattan Transfer, Wolfgang Koeppens Tauben im Gras, Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, Ryunosuke Akutagawas In a Grove (die Vorlage für Akira Kurosawas Film Rashomon), oder auch die verstörenden Bücher Nix und Moppel Schappiks Tätowierungen des Bachmann-Preisträgers Peter Wawerzinek nie gegeben.

Die Warnung ist aber insofern völlig berechtigt, weil es sich beim Perspektivwechsel um eine Technik handelt, die ein gewisses schriftstellerisches Können erfordert, wenn man sie richtig einsetzen will. Dazu kommt, dass man dem Leser einiges an Arbeit abverlangt, wenn dieser dem Fortgang der Erzählung folgen soll. Die Technik eignet sich demnach nicht für den seichten Unterhaltungsroman. Dennoch kann man damit vorallem die Leser begeistern, die sich gerne intellektuell herausfordern lassen.

Nun könnte man meinen, das gälte nur für die »hohe« Literatur und der Genreautor bliebe besser in den sicheren Leitplanken seines Sujets und einem angestaubten, süß- säuerlichen Realismus verhaftet (der im Bereich der Romance auch gerne mal ins Verkitschte abgleitet), aber das stimmt so nicht: Auch der Genreautor kann aus den Techniken der Hochliteratur künstlerischen Gewinn ziehen. Allein schon dadurch, dass man sein Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten erweitert, das Experiment wagt, wertet man seine eigene Erzählung künstlerisch auf.

Warum sollte man zum Beispiel in einem Thriller nicht eine Sequenz bauen, in der der Fokus der Erzählung von einem Objekt/einer Person zur nächsten springt, ähnlich wie eine Kamera im Film durch einen Raum fährt und jeweils andere Blickwinkel einfängt, z. B. so:

Eine Fliege an der Decke beobachtet zwei Männer, sie sieht, wie einer der beiden mit einem Messer zusticht ::>; Perspektivwechsel: Innenperspektive des Angreifers ::>; Perspektivwechsel: Beschreibung, wie die Klinge in den Körper des Opfers eindringt ::>; Perspektivwechsel: Innenperspektive des Opfers.

Damit hätte man zum Beispiel schon das Grundgerüst für eine Kurzgeschichte.

Um das Ganze noch einmal etwas deutlicher zu machen, möchte ich eine Sequenz aus meiner Science-Fiction-Kurzgeschichte Elevation Zero analysieren:
Ryder konnte den Roboter von seiner Position aus sehen, eine humanoide, in Tarnfarben gehüllte Gestalt, die anstelle des rechten Unterarms eine klobig aussehende Waffe montiert hatte, und die sich langsam in ihre Richtung bewegte, ohne ihn oder Nandhar bemerkt zu haben. Er gab dem Kathaner ein Zeichen, dass er stillhalten sollte. Dann deutete er auf eine Gruppe von Felsen, die nur wenige Schritte entfernt lagen. Hook machte eine Geste, dass Nandhar zu den Felsen hinüberrennen sollte.
Nandhar nickte. Dann sprang er auf. Noch bevor er wieder auf dem Boden gelandet war, begann er zu schießen. Die Kugeln aus seiner Waffe schwirrten um den Roboter herum. Einige streiften das Chassis der Maschine, prallten aber wirkungslos von ihm ab. Dennoch lenkten die Treffer aus seiner ungezielten Salve die Maschine lange genug ab, dass er sich hinter die Felsen retten konnte.
Du springst, rennst schießend an dem Roboter vorbei, siehst die Kugeln, die funkenstiebend von ihm abprallen, siehst, wie der Arm der Maschine sich hebt. Dann bist du hinter den Felsen verschwunden und rollst dich ab. Ein Blitz! Steinsplitter regnen auf dich herab. Du hörst die klackenden Schritte der Maschine auf dich zukommen. Sie steht vor dir. Du blickst in ein einzelnes, rotglimmendes Linsenauge, das von kleineren Nebenaugen umgeben ist. Der Roboter hebt seine Waffe.
Ryder sah, wie die Schüsse aus Nandhars Waffe wirkungslos abprallten, beobachtete, wie sein Freund gerade noch rechtzeitig hinter dem Felsen verschwand, um dem Schuss aus der Railgun des Roboters zu entgehen, der einen tiefen Krater in da Gestein riss. Hook zielte. Die Maschine hob ihren Arm zu einem zweiten Schuss, der den Kathaner töten würde. Dann zerplatzte der Kopf des Roboters in eine Wolke aus elektronischen Bauteilen. Ryder Hook hatte geschossen.
Du blickst in den Lauf der Railgun. Erwartest den Schuss, der nicht kommt. Stattdessen prasseln Plastikteile, Kabel und Elektroschrott auf dich herab. Der Torso der Maschine zuckt ein paar Mal unkoordiniert, dann bricht er zusammen. Du machst einen Sprung zur Seite und schaust auf die Überreste des Roboters hinab. Deine Ohren zucken vor Aufregung und du spürst, wie sich dein gesamtes Körperfell vom Kopf bis zur Schwanzspitze sträubt. Fauchend trittst du gegen das regungslose Chassis.
Hook trat neben Nandhar, der fauchend auf den auf den reglosen Körper des Roboters eintrat.
»Eine KOBI-TO-520 Infiltratordrohne. Ein ziemlich altes Modell. Hätte Tarkis etwas neueres auf Lager gehabt, wären wir ohne Chance gewesen.«
Was passiert hier erzähltechnisch? In dem vorliegenden Abschnitt wird zwischen der Außenperspektive und der Innenperspektive Nandhars gewechselt. Auf beiden Ebenen wird dasselbe Ereignis geschildert: Der Angriff des Roboters auf die beiden Protagonisten. Zuerst erleben wir das Geschehen aus der Außensicht, quasi wie eine Kameraeinstellung. Dann wechselt die Perspektive auf die Innenperspektive Nandhars und wir erleben die selbe Szene aus Nandhars Sicht.

Dann wechselt der Fokus wieder auf die Außensicht. Es wird beschrieben, wie Hook den Roboter erschießt, kurz bevor dieser Nandhar töten kann. Dann wechselt der Fokus wieder auf Nandhars Erleben, um schließlich wieder nach außen zu wechseln.

Der Point of View intermittiert also zwischen der Außen- und der Innensicht. Der Effekt davon ist, dass wir nicht nur eine sachliche Beschreibung der Ereignisse erhalten, sondern zugleich auch erfahren, was in einem der Protagonisten vor sich geht. Die eigentlich klassische Passage wird so emotional aufgeladen und erscheint so im Vergleich zu der reinen Schilderung aus nur einer Perspektive emotional aufgeladen. Das das so ist, kann man leicht erkennen, wenn man die innerperspektivischen Einschübe weglässt:
Ryder konnte den Roboter von seiner Position aus sehen, eine humanoide, in Tarnfarben gehüllte Gestalt, die anstelle des rechten Unterarms eine klobig aussehende Waffe montiert hatte, und die sich langsam in ihre Richtung bewegte, ohne ihn oder Nandhar bemerkt zu haben. Er gab dem Kathaner ein Zeichen, dass er stillhalten sollte. Dann deutete er auf eine Gruppe von Felsen, die nur wenige Schritte entfernt lagen. Hook machte eine Geste, dass Nandhar zu den Felsen hinüberrennen sollte.
Nandhar nickte. Dann sprang er auf. Noch bevor er wieder auf dem Boden gelandet war, begann er zu schießen. Die Kugeln aus seiner Waffe schwirrten um den Roboter herum. Einige streiften das Chassis der Maschine, prallten aber wirkungslos von ihm ab. Dennoch lenkten die Treffer aus seiner ungezielten Salve die Maschine lange genug ab, dass er sich hinter die Felsen retten konnte.
Ryder sah, wie die Schüsse aus Nandhars Waffe wirkungslos abprallten, beobachtete, wie sein Freund gerade noch rechtzeitig hinter dem Felsen verschwand, um dem Schuss aus der Railgun des Roboters zu entgehen, der einen tiefen Krater in da Gestein riss. Hook zielte. Die Maschine hob ihren Arm zu einem zweiten Schuss, der den Kathaner töten würde. Dann zerplatzte der Kopf des Roboters in eine Wolke aus elektronischen Bauteilen. Ryder Hook hatte geschossen.
Hook trat neben Nandhar, der fauchend auf den auf den reglosen Körper des Roboters eintrat.
»Eine KOBI-TO-520 Infiltratordrohne. Ein ziemlich altes Modell. Hätte Tarkis etwas neueres auf Lager gehabt, wären wir ohne Chance gewesen.«
Das Ergebnis? Eine ganz gewöhnliche Szene, wie sie in hunderten Science-Fiction-Stories schon beschrieben wurde. Aber nichts, was einem auffallen würde.

Perspektivwechsel erfordern Können

Perspektivwechsel können ein mächtiges Werkzeug sein, aber nur, wenn man weiß, wie man sie einsetzen kann. Ist das der Fall, so hat man mit Ihnen ein starkes Mittel, um seinen Büchern und Texten einen eigenen Stil zu geben, der sich vom literarischen Einheitsbrei, der sich gerade auch unter den Self Publishern immer mehr verbreitet, abzusetzen vermag. Denn dass ist ja der große Vorteil des Self Publishing, sich selbst zu verlegen, weil man das Experiment wagt, an das sich die Verlage nicht trauen und nicht den Selbstverlag zu wählen, weil es das eigene Werk beim Verlag nicht geschafft hat.

1 Kommentar:

Amalia Zeichnerin hat gesagt…

Ein Perspektivwechsel dieser Art erscheint mir auch dann besonders sinnvoll, wenn man statt ein oder zwei Protagonisten ein Team hat, vor allem wenn es ganz unterschiedliche Personen mit verschiedenen Ansichten und Lebenseinstellungen sind. "Actionszenen" absatzweise aufzubrechen in mehrere Perspektiven ist allerdings eine Kunst, musste ich feststellen ;)